HAARIGE ZEITEN

Langes Männerhaar in den 1960er-Jahren

Von Nicole Tiedemann

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Bremen, 1968. Foto: N. Tiedemann

Lange Haare als Protestmittel haben Tradition. Es scheint beinah, dass zu allen Zeiten und in unterschiedlichen Kulturen das lange, jedoch - wohlgemerkt - unfrisierte Haar als ein Zeichen galt, sich der sozialen Kontrolle zu entziehen. "Das Schneiden des Haares gleicht dem Unterordnen unter die soziale Kontrolle. Das Frisieren desselben mag eine ähnliche Funktion übernehmen", formuliert der Kulturanthropologe C. R. Hallpike in einem Artikel von 1969. Dafür gibt es unzählige Beispiele. Man denke nur an die Anachoreten, also jene Personen, die sich im dritten Jahrhundert nach Christus aus ihrem Sozialverband lösten, um in den Wüstengebieten Ägyptens ein Leben in Einsamkeit und Hingabe an den christlichen Gott zu führen. Sie liefen nackt herum und ließen die Haare wachsen, um zu demonstrieren, dass sie die Zivilisation verlassen hatten.

Dieses Phänomen ist auch im Zeitalter der Industriegesellschaft zu beobachten. Die Bohème und die Protagonisten der neuen politisch-gesellschaftlichen Ausrichtung des 19. Jahrhunderts sind Beispiele dafür, dass den industriellen Gesellschaftsformen die Tendenz zur äußerlichen Demonstration der Abgrenzung innewohnt. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang der radikale Demokrat des Vormärz Gustav von Struve, auf den der bekannte Struwwelpeter zurück zu führen ist.

Das Phänomen wiederholte sich nach dem Zweiten Weltkrieg. Wer würde beim Stichwort „fünfziger Jahre“ an einen Bürstenhaarschnitt denken, auch wenn das sicherlich die am meisten getragene Herrenfrisur war? Bilder von Schauspielern wie Tony Curtis und Musikern wie Elvis Presley in tausendfach aufgelegten Zeitschriften haben dafür gesorgt, dass sich ihre Frisuren als typisch für diese Zeit in den Köpfen festgesetzt haben.

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"D.A."

Der Vorreiter der berühmten „Elvistolle“ war der „D.A.“ (Duck’s Ass), den sich mexikanische Immigranten der Westküstenstädte ausgedacht hatten. Die sogenannten Panchucos trugen diesen Haarschnitt, um sich von den gebürtigen Nordamerikanern zu distanzieren. Denn diese diskriminierten die Mexikaner - zunächst wegen ihrer Herkunft, dann ebenso wegen ihres Haarschnitts. Von Amerika aus gelangte der „D.A.“-Style nach Europa und war für die Halbstarken ein Mittel der Provokation.

Der in Deutschland sogenannte „Entenschwanz“ wurde geformt aus den etwas längeren Nackenhaaren, die mit Hilfe von Pomade oder Brisk zur Mitte hin in Rollen gekämmt wurden. Die Ponyhaare kämmte man ebenfalls mit Haarfett nach hinten, um sie dann geschlossen wieder nach vorne zu schieben. Es fiel beim ersten Hinsehen nicht auf, dass die Haare die übliche Krangenrandlänge längst überschritten hatten. Eher irritierte der mächtige Pony, denn er behinderte den Blick auf die freie Stirn. Der „D.A.“ und später die „Elvis-Tolle“ verweigerten also den Blick in die Augen und signalisierten den Vertretern der pädagogischen Autorität damit Widerstand.

Dann kamen die Beatles. In den späten 1950-Jahren sahen sie aus wie jede andere Rock 'n' Roll Band mit „Entenschwanz“. Der fünfte Beatle Stuart Sutcliffe, der bereits 1962 starb, war verliebt in die Deutsche Fotografin Astrid Kirchherr, die ihm den „French Caesar“-Schnitt frisierte, den sie auch selbst trug: die Seiten kurz und gestuft geschnitten, den Nacken ausrasiert, die Ponyhaare nach vorn zu den Augenbraunen runtergekämmt. Die übrigen Bandmitglieder machten es Sutcliff nach. Seither waren die Beatles der Inbegriff für Langhaarigkeit, denn es war das erste Mal für die Nachkriegsgeneration, dass die Haare öffentlich über die Ohren getragen wurden.

Im Laufe der Sechziger wurden die „Pilzköpfe“ zu den fast liebenswerten Mop Tops, während die Stones immer lauter und ihre Haare immer länger wurden. Das fliegende Haar beim Tanz auf Rock-Konzerten unterstrich das Gefühl der Ausgelassenheit, Wildheit, Freiheit und jugendlichen Triebhaftigkeit. Auch war die erotische Komponente des ekstatisch herumwirbelnden Schopfes nicht zu verkennen. Die Stones gelten als Vorreiter und Verbreiter der Mittelscheitelfrisur. Allerdings sind die wahren Trendsetter - wie bei den eben beschriebenen Panchucos – wohl wieder innerhalb der jugendlichen Subgruppen zu suchen, die mit ihrem Kopfputz ein bestimmtes Anliegen zum Ausdruck bringen wollten.

Protestmittel „Haar“ ab den 1960er-Jahren

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Unisex-Frisur, 1960er-Jahre. Foto: N. Tiedemann

Pier Paolo Pasolini beschreibt das Phänomen der Langhaarigen in den 1960er-Jahren folgendermaßen:
"Langhaarige habe ich zum ersten Mal in Prag gesehen. In die Empfangshalle des Hotels, in dem ich wohnte, kamen zwei junge Ausländer mit Haaren bis auf die Schultern. Sie durchquerten die Halle ... und setzten sich an einen Tisch. ... Die beiden sprachen weder als sie durch die in der Halle stehende Menschenmenge durchquerten, noch während sie in ihrer abgelegenen Ecke saßen ... . Die beiden benutzten nämlich, um mit den Umstehenden ... zu kommunizieren, eine andere Sprache als die der Worte. Das, was die traditionelle verbale Sprache ersetzte und überflüssig machte - und augenblicklich seinen Platz im weiten Reich der 'Zeichen' fand, das heißt im Bereich der Semiologie - war die Sprache ihrer Haare." (Mailand 1975)

Pier Paolo Pasolini verstand es, diese "Sprache der äußeren Erscheinung, die der Mensch seit jeher zu gebrauchen versteht", zu entschlüsseln. Der Autor dechiffrierte die Aussage der Langhaarigen folgendermaßen: "Die Konsumgesellschaft ekelt uns an. Wir protestieren radikal. Wir schaffen durch unsere Verweigerung einen Antikörper zu dieser Gesellschaft."

Jedoch kann von einer geschlossenen, einheitlichen Protestgestalt einer jugendlichen Subkultur, die die eben beschriebenen Inhalte stringent verfolgte, nicht die Rede sein. Zwar war die gesellschaftliche Transformation das große Ziel der verschiedenen intellektuellen Bewegungen, die Mittel zur Umsetzung dieses Zieles wurden von den jeweiligen Gruppen jedoch unterschiedlich gewählt. Gerade bei der Thematisierung der Protestmittel gab es in der Bundesrepublik Deutschland divergierende Meinungen, speziell bezüglich der Glaubwürdigkeitsfrage durch Frisur und Kleidung.

Innerhalb der Kommune I versuchte man vehement, sich der Abgrenzungsmittel „Kleidung und Frisur“ zu bedienen. Rainer Langhans von der Kommune I wurde berühmt mit seinem Schopf, der im Laufe der Sechziger von vielen kopiert wurde, weniger jedoch von den SDS’lern (Sozialistischer Deutscher Studentenbund). Diese verstanden ihre Protestbewegung als intellektuell-politisch und nicht so sehr als kulturrevolutionär wie die Kommune I.

Generationskonflikte

Die Elterngeneration empfand die Aufmachung ihrer Söhne als wild und weibisch. Komplementär dazu ist die Frisur der langhaarigen Söhne als Symbol des bröckelnden väterlichen Idealbildes vom Mann, und den damit verbundenen Attributen, zu interpretieren.

Für den Jugendlichen, der sich zu einer Langhaar-Frisur entschlossen hatte, war es schwer gegen den Konformitätszwang, den die Erwachsenen im Elternhaus, in der Schule oder am Arbeitsplatz auf ihn ausübten, anzugehen - waren sie doch selbst in einer Zeit aufgewachsen, in der dem disziplinierten, soldatischen Auftreten und Aussehen eine immense Bedeutung zukam. Haaropfer für das Militär war in ihrer Generation Gang und Gebe gewesen.

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Verwandlung für den Wehrdienst, 1970er-Jahre: Foto: N. Tiedemann

Zum wohl berühmtesten Soldaten, der seinen Kopfbewuchs für das Militär stutzte, zählt Elvis, der sich der Disziplinforderung des „Übervaters Heer“ im Jahr 1958 beugte und seine Tolle abschnitt. Knapp neun Jahre nach ihm weigerte sich ein deutscher Soldat, seine Haare wegen des Militärdienstes abzuschneiden. Der Abiturient Albrecht Schmeißern meldete sich am dritten Januar 1967 in der Tilly-Kaserne bei Neuburg an der Donau mit einer schulterlangen Frisur zur Truppe. Laut „Spiegel“ (Nr. 12, 1967) hat der Spieß beim ersten Treffen gefragt: "Sind sie männlichen oder weiblichen Geschlechts?" Der Hauptmann verlangte einen Kurzhaarschnitt von dem Soldaten und stützte sich dabei auf die Zentrale Dienstvorschrift 10/5 der Bundeswehr. Der Soldat musste sich der Schere des Kasernenfriseurs unterwerfen.

Nur wenige Jahre später verkündete die Bundeswehr, sie könne in ihrem Erscheinungsbild die Entwicklung des allgemeinen Geschmacks nicht unberücksichtigt lassen. So wurde am fünften Februar 1971 das bislang gültige Verbot jeglicher Langhaarfrisur von dem damaligen Verteidigungsminister Helmut Schmidt mit den Worten, es interessiere ihn mehr, was unter der Schädeldecke zu finden sei, als das, was auf den Köpfen wachse, aufgehoben. Die Soldaten, deren Haare weiter als bis zum oberen Rand des Hemdkragens herabfielen, sollten im Dienst ein Haarnetz tragen.

Das Haarnetz war innerhalb der Bundeswehr heftig umstritten; die Oberen beklagten die Schlampigkeit der Soldaten und deren Verlust an Disziplin. Im Juni 1972 wurde Helmut Schmidts „Haarerlass“ wieder aufgehoben.

Warum die Haare fielen

"Viel Aufwand für optisch unzureichendes Ergebnis", "die persönliche Zeit war reif", "ich war Zuhause ausgezogen", "für den Wehrdienst", "wegen der Arbeit im Krankenhaus", "wegen der sich immer weiter vergrößernden Geheimratsecken", "wegen der Erfindung des Integralhelms Motorradhelm ", "war als Protestfahne nicht mehr so wichtig" - das waren die Argumente zum Abschneiden der Haare. Besonders wichtig erscheint die letzte Aussage. Daß die Haare als Protestfahne nicht mehr so wichtig waren, mag daran liegen, daß die Frisur ihren Protestcharakter durch die Mechanismen der Kommerzialisierung während der siebziger Jahre - immerhin trugen jetzt sogar beliebte Schlagerstars lange Haare (allerdings mussten sie gepflegt sein!) - vollends eingebüßt hatte. Die Protestwelle selbst war verebbt. Zudem gab es Gründe zum Abschneiden des Schopfes, die in der Biografie jedes einzelnen Langhaarigen lagen, und dementsprechend verschieden ausfielen. Ein verbreiteter Grund war der Eintritt ins bürgerliche Arbeitsleben. Die Identitätssuche im Job erforderte das Akzeptieren der damit verbundenen traditionellen Arbeitsethik und die Integration in das gesellschaftliche Leben, auch wenn dieses sich anders als das der Elterngeneration gestalten ließ.

Über Stefan Aust und "seinen Roman" der Haare berichtete die Bunte im Dezember 1994:
"Was kümmert mich meine Frisur von gestern? ... Stefan Aust ... hat '68 ausgesehen wie eine Kreuzung aus Hippie und Langhaardackel, was damals in seinen Kreisen Mode war. ... Apropos: Lange Haare waren mal das Zeichen für Freiheit. Das ist vorbei. Knallharte Geschäfte verlangen knallharte Frisuren. High noon beim 'Spiegel'. Für eine ganze Handvoll Dollar schmeißt Aust da jetzt die Penner raus. So gesehen stimmt es, daß die Revolution ihre Kinder frißt."

Auszug aus dem Skript zum Vortrag "Haarige Zeiten" im Rahmen der Tagung "Haar tragen" der TU Darmstadt/Wella AG.

Zur Autorin

Dr. Nicole Tiedemann wurde mit der Arbeit "Haar-Kunst. Zur Geschichte und Bedeutung eines menschlichen Schmuckstücks" an der Universität Bremen promoviert und ist nun Leiterin der Abteilung Gemälde und Graphik im Altonaer Museum Hamburg.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008