ÜBER GLATZEN UND RASTAZÖPFE

Kulturvergleichendes zu Haaren und Frisuren

Von Beate Zekorn-von Bebenburg

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Der Struwwelpeter aus Heinrich Hoffmanns 1845 erschienenem Bilderbuch ist ein Ahnherr des Haarprotests

Haare sind ein ganz besonderer Stoff. Fast jeder hat sie, zumindest für eine Zeitspanne des Lebens. Täglich beschäftigt man sich mit ihnen. Vom Friseur bis zum Shampoohersteller verdienen viele Menschen Geld mit den – dermatologisch betrachtet – dünnen Hornfäden. Vielfältige Vorstellungen von Schönheit sind mit Haaren verbunden. Wie „behaart“ selbst unsere Alltagssprache ist, zeigen zahllose Begriffe und Wortspiele: Da wird Politikern „Haarspalterei“ oder gar „haarsträubendes Verhalten“ vorgeworfen, das „Haar in der Suppe“ verdirbt nicht nur die Mahlzeit, es ist „zum Haare ausraufen“: Haare aus aller Welt lassen sich nicht über einen Kamm scheren. Ob Dauerwelle oder Glatze – beide Formen der Haartracht können bei unterschiedlichen Völkern als schöne, einzig richtige Damenfrisur gelten. Dennoch lassen sich Generalisierungen treffen. Warum sind Haare so wichtig? Welche sozialen Funktionen haben Frisuren? Diesen Fragen geht dieser Beitrag nach, der auf dem Katalog „Haargeschichten. Vom Struwwelkopf zum Rastazopf“ zur gleichnamigen Ausstellung im Heinrich-Hoffmann-Museum, Frankfurt am Main, 1996, beruht.

Es klingt banal: Haare und auch Fingernägel sind keine gewöhnlichen Körperteile. Sie wachsen auch dann noch, wenn das Körperwachstum abgeschlossen ist. Sie lassen sich schmerzlos abschneiden, färben und formen – Eigenschaften, die Haare zur idealen Signalanlage machen. Im vom Körper abgetrennten Zustand werden sie zu von magischen Vorstellungen besetzte Substanzen.

Soziale Haare
Frisuren haben bei den meisten Ethnien der Welt sowohl ästhetische als auch gesellschaftliche Funktionen. Niemand ließ und lässt das Haar „einfach“ wachsen. Wenn doch – wie im Fall der christlichen Eremiten - ist dies ein bewusster Akt der Verwilderung und Ausgrenzung von der Zivilisation. Jede Epoche, jede Kultur geht mit den Haaren ihrer Zeitgenossen auf bestimmte Art und Weise um. Ob kurz oder lang, Perücke oder Lehmversteifung, Dreadlocks oder Glatze – wie Haartracht auszusehen hat und welche Bedeutung damit verbunden ist, unterliegt meist genau formulierten Vorstellungen. Umgekehrt dient die Haartracht dazu, von der Mainstream-Gesellschaft abweichende Meinungen öffentlich zu machen und Protest zu formulieren, wie Beispiele aus der jüngeren westlichen Geschichte zeigen: Vom langen Haar der Hippies über die Stachelfrisur der Punks führte der Haarprotest zur Glatze der Skinheads. Kurioserweise wurden diese Provokationsfrisuren immer von der Mode politisch entschärft und als „Trendfrisur“ vereinnahmt. So erfuhr selbst die Glatze der Skinheads modische Umwandlung auf den Köpfen zahlloser „hipper“ Jugendlicher seit dem Ende der 1990er Jahren.

Frisuren informieren über ihren Träger: Bevor ein Wort gewechselt wird, lässt sich ein Fremder nach seiner Haartracht beurteilen. Die Geschichte der Frisur in Europa zeugt von Beispielen, wie Herrscherschichten Einfluss auf die Köpfe ihrer Untertanen nahmen. So galt im antiken Griechenland das Tragen von langem Haar als Vorrecht der freien Männer. Einfache Handwerker und Sklaven mussten kurz geschorenes Haar tragen. Mit dem Sieg der Demokratie im fünften Jahrhundert v. Chr. setzte sich der Kurzhaarschnitt bei allen Männern durch.

Auch bei den Germanen zeigte die Frisur die gesellschaftliche Stellung eines Mannes: Nur die Freien trugen langes Haar. Das Abschneiden der Haare galt als schwere Strafe, die an Ehebrecherinnen und Gefangenen ausgeübt wurde. Unter dem römischen Einfluss setzte sich nördlich der Alpen die Kurzhaarfrisur durch. Langes Haar wurde zum Adelsprivileg und später zum exklusiven Vorrecht der Königsfamilie. Nie durfte den Merowingerkönigen das lange Haar gestutzt werden, denn es repräsentierte die magische Kraft der angeborenen Königswürde, das „Königsheil“ – eine Vorstellung, die sich ebenso bei sakralen Herrschern Westafrikas wie im alten Japan wiederfindet. Gregor von Tours berichtet über die traurige Geschichte eines merowingischen Machtkampfs um Haar und Herrschaft: Königin Chlotilde war die Großmutter der rechtmäßigen Erben des Frankenreiches. Ihre Söhne Clotar und Childebert, die selbst den Thron besteigen wollten, entführten die Kinder ihres verstorbenen Bruders und zwangen die Großmutter zu einer Entscheidung. Sie sandten ihr Schwert und Schere zu. Die stolze Frau entschied sich für das Schwert: Lieber sah sie die Enkel tot, als deren Königshaar geschnitten.

In manchen außereuropäischen Gesellschaften waren lange Haare ein Vorrecht der Freien. Oft mussten Sklaven sich die Haare abschneiden. Wer die Schere führen durfte, übte damit Macht über den gesamten Menschen aus. Geschorene Haare gelten als Zeichen der Unterwerfung. Zur öffentlichen Demütigung schor man im Zweiten Weltkrieg den Frauen die Haare, die ein Verhältnis mit „dem Feind“ gehabt hatten. Langes Haar als Zeichen der Amtswürde gehört noch heute zum englischen Rechtssystem in Form einer langlockigen Perücke.

Eine Geste der Unterwerfung und der symbolischen Loslösung von allem Weltlichen zeigen katholische Nonnen, die beim Eintritt ins Kloster das Haar abgeschnitten bekommen. Auch im Buddhismus ist die Haarschur für Ordensleute üblich und kennzeichnet sie neben ihrer Kleidung in der Öffentlichkeit.

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Das Fest der Namensgebung auf der Insel Java, Indonesien. Foto: M. Schweizer

Haare und Initiation
Überhaupt werden Initiationsrituale häufig von einem Haarschnitt oder einem Wechsel der Frisur begleitet. Bei den ostafrikanischen Rendile bilden Mütter nach der Geburt des ersten Sohnes mit Hilfe von Schlamm, Ocker und Tierfett aus ihren Haaren eine hahnenkammähnliche Frisur, die als Geburtsanzeige funktioniert und den Statuswechsel anzeigt. Bis zur Beschneidung des Sohnes wird diese Frisur getragen, dann wird der Kopf kahl geschoren. Auf der indonesischen Insel Java feiert man am fünften oder siebten Tag nach der Geburt das Fest der Namensgebung. Dabei wird dem Baby das Haar bis auf eine Locke über der Fontanelle geschoren. Diese Locke muss als Schutz bleiben, damit durch die Schädelöffnung keine bösen Geister eindringen können.

Haarrituale begleiten an vielen Orten die Initiation ins Erwachsenenleben. Häufig gehört zu den Initiationsritualen für Jungen oder Mädchen eine Zeit der rituellen Seklusion, in der die Initianden abgeschieden von der Gemeinschaft leben müssen. In der Phase der Umwandlung besteht bei manchen Ethnien das Verbot, Haare und Nägel zu schneiden. Auf den Admiralitätsinseln in der Südsee dauerte die Seklusion der Knaben so lange, bis ihr Haupthaar lang genug war, um daraus die Männerfrisur machen zu können. Die radikalste Form der Frisurveränderung praktizieren die Tukuna im brasilianischen Amazonasgebiet, die bei der Mädcheninitiation den Initiandinnen die Haare ausreißen. Mit den nachwachsenden Haaren wächst symbolisch die erwachsene Frau heran.

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"Keine Frisur" ist auch eine Frisur. Junge Frau in Nigeria. Foto: R. Wente-Lukas.

Auch bei Hochzeitsritualen ist die Frisurveränderung oder ein Haarschnitt wichtiger Bestandteil. Bis ins 19. Jahrhundert mussten verheiratete Frauen in Deutschland, die nun „unter der Haube“ waren, ihre Haare in der Öffentlichkeit bedecken oder zumindest aufgesteckt tragen. Besonders oft begleiten Haarschneiderituale auch Totenzeremonien. Die nächsten Angehörigen eines Toten scheren sich die Haare als Zeichen der Trauer und Trennung. Andernorts ist das Verwildernlassen von sonst gepflegten Haaren das Zeichen der Trauer und des Ausnahmezustands, in dem sich die Angehörigen befinden. Bei den südamerikanischen Aché schert man Witwen das Haar. Sobald es wieder nachgewachsen ist, endet die Trauerzeit.

Magische Haare
Kulturübergreifende Bedeutung hat die magische Aufladung von Haar. Haare werden als Ausscheidung des Körpers betrachtet, wie Blut, Speichel oder Reste von Fingernägeln. Diese Substanzen gelten bei vielen Ethnien als Träger von Lebenskraft. Im magisch bestimmten Denken können diese Stoffe stellvertretend für einen Menschen stehen, im Umgang mit ihnen ist größte Vorsicht geboten. Für magische Handlungen bilden sie eine ideale Zutat: Wer einem Menschen ein Haar krümmt, schädigt damit den ganzen Körper.

Sieht man Haare als besonders mit Lebenskraft durchsetzt an, so ist die Furcht vor einem Verlust dieser Kraft durch Abschneiden logisch. Gefährlich ist dies vor allem für Menschen, denen besondere Kräfte zugeschrieben werden, etwa für Könige und Priester. Zu den Meidegeboten, an die sich diese Personen halten müssen, gehört immer wieder das Verbot, sich Haare und Nägel zu schneiden. So durfte der japanische Kaiser noch im 19. Jahrhundert nicht zur Schere greifen, da sämtliche Teile seines Körpers als heilig galten. In Westafrika bestand für sakrale Herrscher ebenfalls das Verbot, während der Regierungszeit Haare und Nägel zu schneiden. Da ihre Lebenskraft mit der Fruchtbarkeit des ganzen Landes gleichgesetzt war, hätte ein Kürzen der Haare einen Verlust an Fruchtbarkeit bedeutet. Die magische Kraftaufladung durch Haare verdeutlicht ein Beispiel aus der Geschichte der westafrikanischen Ashanti: Als der „Goldene Stuhl“, das Symbol für Herrschaft, Kraft und Einigkeit, geschaffen wurde, gab jeder Häuptling der Konföderation ein Stück Fingernagel und ein Büschel Haare, mit denen der Stuhl geweiht wurde.

Die Vorstellung, dass ein Haarschnitt den ganzen Körper schwäche, existierte auch in der europäischen Volksmedizin bis in die jüngere Vergangenheit. Besonders für kleine Kinder sei der Energieaufwand, mit dem neue Haare wachsen, zu groß. So sollten Kindern unter zwei Jahren keinesfalls Haare und Fingernägel geschnitten werden. Nicht nur auf Grund des potentiellen Kraftverlustes gelten Haarschnitte bei manchen Völkern als potentiell gefährlich. Häufig lokalisiert man den Sitz der Seele eines Menschen im Kopf, was das Haar gleichsam zur sakralen Region werden lässt. Deshalb ist beim Haare schneiden Vorsicht geboten. So wird aus Siam, dem heutigen Thailand, berichtet, dass jeder Haarschnitt von aufwendigen Zeremonien begleitet wurde.

Auch die Entsorgung der abgeschnittenen Haare kann Kopfzerbrechen bereiten. Geht man von der sympathetischen Verbindung zwischen Haar und Träger aus, wirft man Haare nicht einfach weg, sondern vergräbt oder versteckt sie. Mit dem Pars pro toto könnte ein Übelgesonnener Schaden anrichten. Bei den neuseeländischen Maori genügte eine Haarsträhne oder ein Nagelrest zum Schadenszauber. Die Haare wurden rituell vergraben. Während sie verwesten, glaubte man, sieche auch deren ehemaliger Besitzer dahin. Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens berichtet von zahlreichen Entsorgungsbräuchen, so wurden zum Beispiel in Ostpreußen abgeschnittene Haare unter der Türschwelle vergraben.

Die Pars-Pro-Toto-Vorstellung erfährt von Seiten der Genforschung ihre Bestätigung: In jedem Haar sind die Erbinformationen des dazugehörigen Menschen gespeichert, was Haare heute zu wichtigen Beweismitteln in der Rechtsmedizin macht. Haargenau lässt sich so ein Täter oder eine Todesursache ermitteln.

Weiterführende Literatur

Zekorn, Beate (1996): Haargeschichten. Vom Struwwelkopf zum Rastazopf. Begleitheft zur Ausstellung. Heinrich-Hoffmann-Museum, Frankfurt am Main
Frazer, James George (1989): Der Goldene Zweig. Reinbek bei Hamburg, Deutsche Ausgabe von The Golden Bough, London 1922
Fisher, Angela (1998): Afrika im Schmuck. Köln
Sibeth, Achim (1987): Das Sparschwein unter dem Reisfeld. Java zwischen Gestern und Heute. Roter Faden zur Ausstellung. Museum für Völkerkunde, Frankfurt am Main
Fleischhacker, Hans und Walter Hirschberg (1988): „Haare“. In: Neues Wörterbuch der Völkerkunde. Berlin
Suhrbier, Mona (1992): „Reifefeiern für Mädchen bei den Tukuna-Indianern“. In: Mythos Maske. Roter Faden zur Ausstellung. Museum für Völkerkunde, Frankfurt am Main
Münzel, Mark (1983): Gejagte Jäger. Roter Faden zur Ausstellung. Museum für Völkerkunde, Frankfurt am Main
Beuchelt, Eno und Wilhelm Zier (1989): Schwarze Königreiche. Frankfurt am Main
Bächtold-Stäubli, Hanns (Hg.) (1987): „Haare“. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens

Zur Autorin

Beate Zekorn-von Bebenburg ist seit 1991 Leiterin des Heinrich-Hoffmann-Museums in Frankfurt, das dem Autor des Struwwelpeter gewidmet ist. Studium der Germanistik (mit Schwerpunkt Kinderbuchforschung) und der Ethnologie. Von 1986 – 1990 freie Mitarbeiterin im Museum für Völkerkunde in Frankfurt.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008