VON REINHEIT, ZÄHNEN UND ANDEREN LEIDENSCHAFTEN AUF BALI

Von Anette Rein

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Rituelle Vorbereitung. Foto: EMA SUKARELAWANTO, ANOM MANIK ASUNG

„Ob ich noch im Tempel bei dem rejang der Jungfrauen mittanze? Auf gar keinen Fall, meine Zähne sind doch schon abgefeilt!“ Solche Antworten verblüfften mich immer wieder während meiner vielen Aufenthalte auf Bali seit Anfang der 1980er-Jahre. Was hatten denn Zähne mit Tänzen oder der Teilnahme an Tänzen zu tun? Es war mir bekannt, dass jeder Mensch auf Bali, der Angehöriger des Bali-Hinduismus ist, seine oder ihre Zähne gefeilt haben musste. Wenn es zu Lebzeiten versäumt worden war, geschah dies spätestens am Leichnam kurz vor der Verbrennungszeremonie. Das Zahnfeilen hat mit dem Glauben an Wiedergeburt zu tun. Eine Seele kann sich nur in einem menschlichen Körper reinkarnieren, wenn am früheren Körper die Zahnfeilung stattgefunden hat. Nur dann, hieß es, könne eine Seele für ihre erneute Wiedergeburt einen menschlichen von einem tierischen Leib unterscheiden.

Das Thema „Zähne“ war und ist auf Bali ein sehr komplexes. Nicht nur der Glaube an eine Wiedergeburt gehört dazu, sondern auch das Bild des Menschen mit seinen unterschiedlichen Qualitäten und Aufgaben, die er oder sie im Idealfall in den verschiedenen Lebensabschnitten durchläuft.

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Die oberen Zähne werden abgefeilt. Foto: EMA SUKARELAWANTO, ANOM MANIK ASUNG

In Anlehnung an die konzeptionelle Aufteilung des Kosmos in zwei sich ergänzende Prinzipien gilt, dass ein Mensch, als spiegelbildliches Abbild des Makrokosmos, aus zwei Körpern besteht: einem physischen materiellen Körper und einem spirituellen Leib. Dies bedeutet, dass sich in den einzelnen Teilen des materiellen Körpers auch alle spirituellen Wesen befinden, die in gleicher Weise den Makrokosmos füllen. Zentrum des Mikrokosmos Mensch ist der Nabel.

Vier geistige Geschwister begleiten jeden Menschen durch das Leben hindurch bis über den Tod hinaus. Diese vier spirituellen Schwestern im Falle einer Frau und Brüder im Falle eines Mannes unterstützen den Menschen so lange, wie sie geehrt und mit Opfern bedacht werden. Ansonsten können sie den sie vernachlässigenden Menschen schädigen oder ihn gar verlassen.

Die verschiedenen Elemente des Mikro- und Makrokosmos sind miteinander verknüpft und aufeinander abgestimmt. Sie garantieren die Kontinuität der Lebensprozesse, solange der Zustand der Harmonie aufrechterhalten wird. Die Missachtung der hierarchischen kosmischen Prinzipien führt zu Unordnung und Disharmonie, zum Auseinanderfallen sämtlicher Elemente des Kosmos, und das ist gleichbedeutend mit Unglück, Krankheit, Untergang und Tod.

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Foto: EMA SUKARELAWANTO, ANOM MANIK ASUNG

Der Beitrag zur Erhaltung des Gleichgewichts zwischen den Kräften der Ordnung und des Chaos ist eine alltägliche Verpflichtung, der die Mitglieder der Religion Agama Hindu Dharma nachkommen. Dies findet unter anderem in Form von täglichen Opfern und Gebeten am Hausaltar und an vielen Plätzen des Gehöfts statt. Neben den Gaben zum Gedenken der Ahnen sind es vor allem die Übergangsrituale, die das Individuum auf seinem Weg durch das Leben – sowohl in sozialer als auch in spiritueller Perspektive – begleiten und stärken sollen. Nach balinesischer Vorstellung reinkarniert sich eine Seele idealerweise in der vierten Generation ihrer Familie väterlicherseits. Auf dem gefährlichen Weg der Reinkarnation wird eine Seele nicht nur von ihren vier spirituellen Geschwistern begleitet, sondern beide Elternteile müssen nach der Feststellung einer Schwangerschaft bestimmte Vorsichtsmaßnahmen einhalten, damit sich die Seele im Körper verfestigen kann. Ein Neugeborenes wird wie ein Wesen betrachtet, das in spiritueller Perspektive noch stark in der anderen Wirklichkeit verhaftet ist und erst langsam, in verschiedenen Etappen, die sich über Jahrzehnte hinziehen können, auf der Erde, in der alltäglichen Wirklichkeit, ankommen wird. Die Nähe des Kindes zur anderen Wirklichkeit und seine Identifikation mit einem göttlichen Wesen machen es sinnvoll, dass der Umgang mit ihm ein sehr behutsamer sein sollte. Ein plötzliches Erschrecken oder Misshandlungen könnten die Seele wieder verjagen.

Rituale, die den Menschen betreffen, lassen sich in zwei voneinander getrennte Zyklen mit entgegengesetzten Aufgaben unterteilen. Die erste Gruppe bezeichnet den Ritualzyklus, der mit der Hochzeit und dem daran anschließenden Zeugungsakt beginnt. Der Zyklus dient im Verlauf der Schwangerschaft zur Festigung des Embryos im Mutterleib und soll eine komplikationslose Entbindung für Mutter und Kind bewirken. Die verschiedenen Lebensstufen des heranwachsenden Menschen werden durch diese acht Rituale, die die Eltern für ihr Kind durchführen, markiert. Der Zyklus endet mit der eigenen Hochzeit. Die zweite Gruppe der Übergangsrituale umfasst den Totenkult und die anschließende Reinigung der Seele. Diese für die Wiedergeburt bestimmten Zeremonien müssen von den Kindern für ihre Eltern durchgeführt werden.


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Foto: EMA SUKARELAWANTO, ANOM MANIK ASUNG

Mithilfe dieser Ritualzyklen wird die enge Verbindung zwischen beiden Dimensionen der Wirklichkeit (der sichtbaren und der nicht sichtbaren, der Welt der Menschen und der der Gottheiten) immer wieder bewusst gemacht. Die zwei Dimensionen werden durch rituelle Handlungen in Szene gesetzt und damit für die Menschen erlebbar und mitgestaltbar. Wichtige Erkennungszeichen beider Dimensionen von Wirklichkeit sind alle am natürlichen Körper gestaltbaren Teile wie vor allem die Zähne und die Haare, die Haut darf traditionell allerdings nicht verändert werden.

Nicht nur wild wuchernde Haare (sowohl von Menschen als auch von Masken), sondern auch die nicht natürliche Zahnstellung (bei Masken und auf Bildern) dienen als Zeichen der Unterscheidung zwischen menschlichen und nicht menschlichen Wesen. In Haaren und Zähnen werden besondere Lebenskräfte vermutet (bei offenen Haaren und wilden Zähnen eine frei schweifende Sexualität), bei Priestern sind sie Zeichen von besonderer spiritueller Kraft.

Die natürliche Zahnfolge – sowohl bei Menschen als auch bei Tieren – ist so angeordnet, dass die oberen Eckzähne hinter den unteren stehen. Dies wird vor allem bei den Raubtiergebissen mit ihren hervorstehenden Fängen deutlich. Im Unterschied dazu haben die Darstellungen spiritueller Wesen eine geschlossene Reihe von sechs oberen Zähnen, und die unteren Eckzähne stehen hinter den oberen hervor.

Die besondere Bedeutung von Zähnen spiegelt sich im Zahnfeilungsritual wider, das alle Menschen auf dem Weg zur Menschwerdung auf Bali durchlaufen müssen. Das Ritual, in welchem die sechs oberen Vorderzähne (früher: plan) gefeilt werden, wird an beiden Geschlechtern vollzogen und dient dazu, den Unterschied zwischen Menschen und nicht menschlichen Wesen hervorzuheben. Sowohl die oberen als auch die unteren sechs Vorderzähne gelten als Sitz verschiedener Leidenschaften, wie Verlangen, Ärger, Gier, Dummheit, Trunkenheit und Neid. Ziel der Zahnfeilung ist das Markieren der Beherrschung dieser Leidenschaften. Während nur die oberen Zähne begradigt werden, belässt man die unteren in ihrer natürlichen Form. Sie repräsentieren damit ein emotionales Potenzial, welches bewusst eingesetzt werden kann. Im Idealfall werden die Zähne bei den Mädchen nach Eintritt der Menstruation und bei den Jungen nach der Pubertät abgefeilt. Das in den Zähnen symbolisierte Kraftpotenzial wird moralisch wertfrei betrachtet, was bedeutet, dass sowohl Gottheiten als auch dämonische Kräfte mit großen, hervorstehenden Zähnen dargestellt werden können.


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Erste Begutachtung. Foto: EMA SUKARELAWANTO, ANOM MANIK ASUNG

Was haben jedoch die abgefeilten Zähne mit einem Tempeltanz zu tun? Der Bezug ist nur indirekt. Es gibt viele Mädchen, deren Zähne schon lange vor der Hochzeit abgefeilt wurden. Aus Kostenersparnis – ein Zahnfeilritual ist eine aufwendige Angelegenheit – wurden ihre Zähne vielleicht gemeinsam mit denen der größeren Schwester abgefeilt, obgleich sie noch keine Braut waren. Demnach hätte Putu, die mir gegenüber so entsetzt ihre Nichtteilnahme am Tanz mit den Zähnen begründete, eigentlich – meiner Meinung nach – daran teilnehmen können. Dass sie es nicht konnte beziehungsweise wollte, hat mit Reinheitskriterien und dem Eintritt in ein weiteres Lebensstadium zu tun.

Wie oben schon erwähnt, wird ein Neugeborenes auf Bali so betrachtet und behandelt, als ob es sich in einem besonderen spirituellen Zustand befinden würde. Dieser ist unter anderem dadurch charakterisiert, dass ein Kind bis zum Zahnwechsel als „rein“ gilt und für spezielle Handlungen im Tempel ohne weitere Reinigungsrituale eingesetzt werden kann. Mit dem Zahnwechsel beginnt der zweite Lebensabschnitt, der bis zum Einsetzen der Menstruation (bei den Mädchen) beziehungsweise zur Hochzeit, das heißt der Zeit, nach welcher offiziell heterosexueller Sex erlaubt ist, dauert. In dieser zweiten Phase beginnt auch die regelmäßige Teilnahme an den Tempeltänzen durch die Kinder. Mit der Hochzeit befindet sich der Mensch sozusagen in einer rituellen Zwischenphase. In dieser darf er / sie alle menschlichen Leidenschaften ausleben und befindet sich auf der rituellen Skala auf der untersten Reinheitsstufe innerhalb des Lebenszyklus. In dieser Zeit sind alle Balinesinnen von bestimmten Tempeltänzen ausgeschlossen. Erst nach Beginn der Menopause können sie wieder daran teilnehmen.

Durch das Zahnfeilungsritual war Putu zu einer heiratsfähigen Frau geworden und damit an der Schwelle einer neuen Lebensphase angekommen. Der scheinbare Widerspruch, dass der körperliche Eingriff der Zahnfeilung nicht nur zur Markierung der Kontrolle von menschlichen Leidenschaften dient, sondern zugleich auch eine Art Freikarte zum Leben derselben ist, ist nur ein scheinbarer. Zum Ahnenkult gehört die Fortpflanzung der Menschen, und diese wiederum erfordert Leidenschaften. In den gefeilten Zähnen wird die Gleichzeitigkeit von spiritueller und materieller Konzeption balinesischer Weltsicht mithin am deutlichsten. Eine allgemeine Verantwortlichkeit für Erde, Welt und Kosmos im Bali-Hinduismus wird auf diese Weise in der bewussten Gestaltung des menschlichen Körpers ästhetisch gefasst und täglich von allen Beteiligten erinnert.

Weiterführende Literatur

Rein, Anette (2000): Der gedoppelte Mensch. Performative Grenzüberschreitungen auf Bali. Sociologus. 50, 2:175-198.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008