DAS MANIFESTE UND DAS VERBORGENE

Zum Foto des senegalesischen Heiligen Cheikh Ahmadou Bamba

Von Thomas Reinhardt

Klicken Sie für eine vergrößerte Ansicht auf das Bild Klicken Sie für eine vergrößerte Ansicht auf das Bild
Einziges Bild von Cheikh Ahmadou Bamba, Gründer der Sufi-Bruderschaft der Muriden, Senegal.

Wenn Europäer außerhalb Europas Bilder machen, wird dem fotografischen Akt - oft nicht zu Unrecht - ein gewisser aneignender Zug unterstellt. Was man auf Film gebannt hat, das hat man. Nicht umsonst werden Fotos ja auch „geschossen“, (im Englischen) „genommen“, oder man geht auf „Fotosafari“ und nicht umsonst ist im Zusammenhang mit dem Fotografieren sogenannter „Wilder“, wie Thomas Theye zeigt, häufig die Rede vom „Schattenraub“ oder „Seelenklau“. Das Bild, um das es im Folgenden gehen soll, fügt sich auf den ersten Blick scheinbar bruchlos in diesen Rahmen ein.

Es wurde zur Hoch-Zeit des französischen Kolonialismus in Westafrika aufgenommen und zeigt einen Mann vor einer Holzwand. Der Abgebildete wirkt weder besonders entspannt, noch macht er den Eindruck, als habe er freiwillig für das Bild posiert. Unschwer kann man sich die Aufnahmesituation vorstellen: der Fotograf (als das handelnde Subjekt) dirigiert sein Objekt an den richtigen Ort, weist es an, eine Weile bewegungslos zu verharren und macht sein Foto. Dieses gehört dann ganz selbstverständlich dem Fotografen, der nach Belieben weiter damit verfahren kann. Der Abgebildete hingegen hat in der Regel weder irgendeinen Anspruch auf die Rechte am Bild, noch wird ihm ein (wie geringfügig er auch immer sein mag) Anteil an der „Autorschaft“ des Fotos eingeräumt. Bilder dieser Art gibt es Unzählige. Allein die Publikation, der es entstammt - Paul Martys Etudes sur l’Islam au Sénégal von 1917, enthält ein gutes Dutzend ganz ähnlicher Aufnahmen.

Fototechnisch gesprochen ist dieses spezielle Bild nicht besonders gelungen: Das Licht ist zu grell, die Schatten zu tief, und die Kamera war ganz offensichtlich auf die falsche Entfernung scharf gestellt. Es wäre wohl auch nie veröffentlicht worden, wäre dies nicht die einzige Fotografie von dem Mann auf dem Foto: Cheikh Ahmadou Bamba, der Gründer der heute etwa vier Millionen Anhänger zählenden Sufi-Bruderschaft der Muriden – ein von seinen Gefolgsleuten als Heiliger verehrter Mann, dessen erheblicher Einfluss auf weite Teile der muslimischen Bevölkerung des Senegal den französischen Kolonialherren seinerzeit alles andere als geheuer war.

Wer sie gemacht hat, ist nicht bekannt. Man weiß, dass das Foto 1917 im ersten Band der erwähnten Arbeit von Paul Marty als sechzehnten von insgesamt 56 Bildtafeln abgedruckt wurde. Während jedoch einige der übrigen Tafeln auf einen gewissen Lasselves als Bearbeiter verweisen, trägt die fragliche Fotografie lediglich Bambas Namen als Bildunterschrift. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass Marty selbst die Aufnahme gemacht hat. Als Fotograf in Frage kommt aber auch ein Kolonialoffizier namens Jean-Baptiste Théveniaut, den Marty gegen Ende seines Buches in einer kurzen Dankadresse erwähnt und der so außergewöhnlich schlechte Beziehungen zu dem Abgebildeten unterhielt, dass er 1913 seines Postens enthoben wurde, um die sich allmählich abzeichnende Verbesserung der Beziehungen zwischen Kolonialverwaltung und der Bruderschaft der Muriden nicht weiter zu behindern, wie Mary und Allen Roberts schreiben. Zeichnete tatsächlich Théveniaut für die Aufnahme verantwortlich, liegt man vermutlich nicht völlig falsch, wenn man annimmt, dass das Bild weniger neutralen dokumentarischen Zwecken dienen sollte, als vielmehr der Disziplinierung des Abgebildeten, seiner auch visuellen Zurichtung auf die Eingliederung in koloniale Kategorien oder – für den Fall der Fälle – in die Bildkartei potentieller Aufständischer.

Wie dem auch sei: die Spuren der Entstehung des Bildes sind gründlich getilgt. Weder lässt sich mit Gewissheit sagen, wer es gemacht hat, noch weiß man, wann genau es entstand. Lediglich der Ort scheint einigermaßen festzustehen: Djourbel im Senegal, wo Cheikh Ahmadou Bamba während Martys Aufenthalt in Westafrika unter Hausarrest stand. Und weil das Negativ als verloren gilt, ist es auch nicht möglich, die Mängel des Abdrucks im Buch von Marty mit modernen Bildbearbeitungstechniken auszugleichen und möglicherweise doch noch sichtbar zu machen, was auf der erhaltenen Fotografie unsichtbar im Schatten ruht: insbesondere das Gesicht des Cheikh und sein rechter Fuß.

Früh schon wurde eine französische „Autorschaft“ an dem Bild von senegalesischen Interpreten kategorisch bestritten. Bis heute gilt es für viele Muriden als ausgemacht, dass es „unmöglich“ war, den Cheikh zu fotografieren. Es habe, so wurde mir in zahlreichen Gesprächen versichert, „Tausende von Versuchen“ gegeben – alle erfolglos. Niemandem sei es je gelungen, das Bild Ahmadou Bambas auf eine fotografische Platte zu bannen. Wir haben es im lokalen Verständnis also quasi mit einer Umkehrung der Handlungs- und Machtverhältnisse zu tun. Der Abgebildete wird nicht länger als passiv den Aktionen des Fotografen ausgeliefert betrachtet, sondern wird selbst zum handelnden Subjekt. Er bestimmt, ob, wann und wie er sich fotografieren lässt, und welche Teile seines Körpers die fertige Aufnahme dabei enthüllt oder verbirgt. Entsprechend werden auch die scheinbaren Mängel der Fotografie auf eine ganz bewusste Bildstrategie entweder Cheikh Ahmadou Bambas oder aber Gottes selbst zurückgeführt. Nichts auf dem Bild, so lässt sich diese Sicht zusammenfassen, gründet im Zufall: die Unschärfe nicht, die fehlenden Hände nicht, die Schatten auf der Stirn nicht und auch nicht der fehlende rechte Fuß. Wenn das Bild etwas vor dem Blick des Betrachters verbirgt, dann nicht, weil es unvollkommen wäre, sondern weil ein Teil seiner göttlichen Botschaft sich nur im Verborgenen offenbart.

Für die islamische Metaphysik ist die Unterscheidung von Zahir (das Manifeste) und Batin (das Verborgene) von entscheidender Bedeutung. Beide Begriffe finden sich auch unter den 99 Namen Gottes: Az-Zahir , der Eine, der in der ganzen Schöpfung sichtbar ist und dessen Wesen sich dem enthüllt, der die Schöpfung betrachtet, und Al-Batin , jener, der im Verborgenen ruht, der sich der Sinneswahrnehmung entzieht, und dessen Existenz sich dem Gläubigen allein über göttliche Zeichen erschließt. Die „wahre Realität“, die, wenn man so will, „Essenz des Seienden“, beschränkt sich in diesem Verständnis also nicht auf die Ebene des Sichtbaren. Um zu ihr vorzudringen, muss auch das Verborgene, das Unsichtbare gedeutet werden, das, was sich der sinnlichen Wahrnehmung verweigert. Wie etwa ein Fuß, den man nicht sehen kann. Oder ein Gesicht, das im Schatten verborgen liegt. Oder ein unsichtbares Gesicht, das nur manifest wird, weil ein eigentlich sichtbares im Schatten verschwindet.

Klicken Sie für eine vergrößerte Ansicht auf das Bild Klicken Sie für eine vergrößerte Ansicht auf das Bild
Ausschnitt aus dem Bild von Cheikh Ahmadou Bamba

Das zweite Gesicht auf der Stirn des Ahmadou Bamba ist in der Tat ein bemerkenswertes Beispiel für die Art, wie eigentlich Unsichtbares im Verbergen des Sichtbaren plötzlich offen zutage treten kann. Deckt man nämlich den unterhalb der Augen liegenden Teil von Bambas Foto ab, scheint das Bild immer noch ein Gesicht zu zeigen. Nicht länger allerdings das Gesicht Ahmadou Bambas, sondern das eines bärtigen Mannes (mit den auffälligen Schatten auf der Stirn Bambas nunmehr als Augen). Und nicht irgendeines bärtigen Mannes, so die lokale Tradition, sondern das Gesicht Mohammeds selbst, das Gesicht des Propheten.

Nun kann nach einem weit verbreiteten Verständnis von Fotografie ein Foto nichts abbilden, was nicht im Moment der Aufnahme irgendwie vor der Kamera präsent war. Immerhin ist es im fotografischen Akt nichts Geringeres als die sichtbare Wirklichkeit selbst, die sich, zumindest wenn man Roland Barthes in diesem Punkt folgen will, als „Emanation des Referenten“ in eine lichtempfindliche Substanz einschreibt. Das bedeutet freilich nicht, dass das Ergebnis einer fotografischen Aufnahme nicht die eine oder andere Überraschung bergen könnte. Wie eben bei der Fotografie Bambas. Man darf wohl bedenkenlos davon ausgehen, dass sich im Moment der Aufnahme tatsächlich Schatten auf der Stirn des heiligen Mannes befunden haben, die – wenn man genau hingeschaut hätte – den Eindruck eines zweiten Gesichts erzeugten. So offensichtlich sie aber vorhanden waren, so verborgen waren sie zugleich jedem Betrachter, der seine Aufmerksamkeit auf irgendetwas anderes konzentrierte als auf eben diese Schatten. Für alle anderen waren sie nichts als flüchtige Gesichtsstörungen, die zugunsten einer Flächen-, Farb- und Objektkontinuität praktisch vollständig ausgeblendet wurden.

Als das Bild des Cheikh Ahmadou Bamba an einem sonnigen Tag aufgenommen wurde, waren die Schatten auf seiner Stirn also zugleich sichtbar und unsichtbar, lagen sie offen zutage und doch verborgen. Erst in ihrer Fixierung auf der Fotografie schieben sie sich plötzlich in den Vordergrund. Genau umgekehrt verhält es sich bei Bambas rechtem Fuß, der in der Aufnahmesituation selbst ja keineswegs unsichtbar war, sondern lediglich im Schatten lag. Er beschreitet, wenn man so sagen darf, also genau den entgegengesetzten Weg: vom Bereich des Sichtbaren ins Verborgene.

Sein Verschwinden auf dem Foto markiert im lokalen Verständnis zunächst und vor allem einen weiteren Hinweis auf die Gottesnähe des heiligen Mannes. Es ist der rechte Fuß, der sich dem Blick des Betrachters entzieht. Der Fuß also, mit dem man zuerst die Moschee betritt und – so ist anzunehmen – auch das Paradies. Das willentliche Verbergen des Fußes, das dem Cheikh hier als einem aktiven fotografischen Subjekt zugeschrieben wird – was kann es anderes sein als ein Zeichen für seine schon zu Lebzeiten außergewöhnlich große Nähe zu Gott? Die Autorschaft am Bild Foto wird so im Verständnis vieler Muriden von der Person hinter der Kamera auf die vor dem Objektiv verschoben. Nicht zuletzt diesem Transfer von Handlungsmacht mag es letztlich auch geschuldet sein, dass das Bild bereits sehr früh zu einem zentralen Bestandteil des kollektiven senegalesischen Bildgedächtnisses werden konnte und seit den 1920er-Jahren auf unerwartete und von der Kolonialverwaltung vermutlich gänzlich unerwünschte Weise in vielfältigen Formen und Adaptionen zu zirkulieren begann.

Weiterführende Literatur

Barthes, Roland (1989): Die helle Kammer: Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt/Main: Suhrkamp
Marty, Paul (1917): Etudes sur l’Islam au Sénégal. 2 vols. Paris : Ernest Leroux
Roberts, Allen F.; Mary Nooter Roberts (2003): A Saint in the City: Sufi Arts of Urban Senegal. Los Angeles : UCLA Fowler Museum of Cultural History
Theye, Thomas (1989): Der geraubte Schatten: Eine Weltreise im Spiegel der ethnographischen Photographie. München: Bucher

Zum Autor

PD Dr. Thomas Reinhardt, Ethnologe, Forschungen zu Rhetorik und Kulturtheorie, Prozessen der Identitätsbildung, afrikanischer und afroamerikanischer Geschichte und Schatten; zurzeit Mitarbeiter im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg „Medien und kulturelle Kommunikation“ und am Institut für Afrikanistik der Universität zu Köln.

Reinhardt Senegal
Senegal. Karte: E. S. Schnürer. Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main
Klicken Sie für eine vergrößerte Ansicht auf das Bild Klicken Sie für eine vergrößerte Ansicht auf das Bild
Afrika. Karte: E. S. Schnürer. Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008