UNGEWOLLTE KINDERLOSIGKEIT

Ein Problem in Mali?

von Viola Hörbst

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Bamako, 2007. Foto: V. Hörbst

„Spielt ungewollte Kinderlosigkeit in Mali überhaupt eine Rolle?“ So werde ich häufig gefragt, wenn ich von meiner Forschung in Bamako (Mali) erzähle. Ungewollte Kinderlosigkeit wird in der deutschen Öffentlichkeit vor allem als Problem euro-amerikanischer Industriegesellschaften mit niedrigen Geburtenraten wahrgenommen. In afrikanischen Ländern mit hohen Geburtenraten, wie etwa Mali, wo die durchschnittliche Kinderrate pro Frau bei 6,8 Kindern liegt, scheint es abwegig, dass Unfruchtbarkeit verbreitet sein könnte. Doch sprechen die Zahlen für sich: während geschätzte 8 bis 12 % der Paare weltweit mit Fertilitätsproblemen kämpfen, rangieren die Unfruchtbarkeitsraten für das subsaharische Afrika nach dem „Reproductive Health Outlook“ zwischen 7 und 29 %. Zur männlichen Infertilität liegen für Mali keine Zahlen vor, doch leiden geschätzte 10,4 % der Frauen dort an primärer und 23,6 % an sekundärer Infertilität. Geschätzte Werte und Zahlen sind die eine Seite; sie sagen aber nichts darüber aus, wie sich die Lebenswelt ungewollt kinderloser Frauen und Männer in Mali darstellt. Was bedeutet es für sie inmitten einer kinderreichen Gesellschaft zu leben, in der Frauen und Männer erst mit Kinder zu „sozialen“ Personen werden, und wie gehen sie damit um?

„Wenn man eine Frau heiratet, dann ist ein Kind zu bekommen das erste Ziel, um zufrieden zu sein; das Band der Ehe ist es, ein Kind zu bekommen. (...) Bei uns ist es das, was wir wollen. Wir wollen zuallererst ein Kind, (...) als Ergebnis gewissermaßen. Das ist das Ziel der Ehe.“ So erklärt Modibo, der als Buchhalter bei einer großen, internationalen Nicht-Regierungsorganisation (NRO) angestellt ist, seine Einstellung zu Ehe und Kindern. Er ist 52 Jahre alt, geschieden und seit vier Jahren zum zweiten Mal mit Alima, 30 Jahre alt, verheiratet. Aus erster Ehe hat er drei Mädchen, aber noch keine Kinder mit Alima. Der medizinische Grund der Kinderlosigkeit liegt bei Modibo, bei ihm wurde eine massive Oligospermie mit geringer Mobilität der Spermien festgestellt. Mit Alima und den Töchtern aus erster Ehe lebt Modibo im Gehöft seiner Familie, zusammen mit seinen Schwestern und Brüdern, deren Frauen und Kinder. Darunter leidet Alima sehr.

Modibo erzählt: „Wenn man sieht, dass es nicht klappt, nun … ich verstehe es, aber meine Verwandten, sie verstehen das nicht. (...) Sie werden immer meine Frau damit konfrontieren, sie denken, dass sie es sei, dass sie die Schuldige sei. Aber ich bin es selbst, du kennst die Ergebnisse, es gibt eine Schwäche auf meiner Seite, von der meine Verwandten aber nichts wissen.... Aber sie drängen immer meine Frau, Behandlungen zu machen. Sie sagen: ‚Alima, du da, es wird Zeit, dass wir nächstes Jahr dein Baby sehen’, nur weil es anfängt, zu dauern. Die meisten Hänseleien und Beleidigungen kommen von den Ehefrauen meiner Brüder, da wir, wie du weißt, alle zusammen in einem Gehöft leben. (...) Du siehst, wenn es da eine Ehefrau gibt, die keine Kinder hat, wissen es die anderen, sie sagen nichts direkt, aber sie haben ein bestimmtes Verhalten, das wirklich irritierend ist für jene, die keine Kinder hat. Selbst ich habe das bemerkt. Es sind zum Beispiel bestimmte Vergnügungen mit den Kindern, welche die andere Frau nicht machen kann, da sie keine hat.“

Ungewollte Kinderlosigkeit 2
Gehöftleben, Mali, 2007. Foto: V. Hörbst

Obwohl Modibo die Ursache der bislang kinderlosen Ehe mit Alima ist, wird er selbst nicht mit Anspielungen geplagt, auch nicht im Freundeskreis. Doch macht er sich wegen Alimas miserabler Situation des Öfteren Vorwürfe: „Du siehst, der Altersunterschied ist ein bisschen groß, ich fühle mich oft schuldig. Warum habe ich sie geheiratet, frage ich mich oft. Warum habe ich es nicht bleiben lassen? Sie ist viel jünger als ich. Dann wäre sie nicht in dieser Lage.“

Wie die kurze Erzählung Modibos deutlich macht, ist es in Bamako eine große Belastung und ein komplexes soziales Problem, kinderlos zu sein. Kinder zu bekommen, ist keine Frage der Entscheidung, sondern die erwartete biographische Norm. Lebensentwürfe ohne Kinder sehen weder Männer noch Frauen als für sich denkbar oder erstrebenswert an. Kinder dienen der Absicherung im Alter, sind zusätzliche Arbeitskräfte und Einkommensquellen und gelten als verlässlichste Unterstützung.

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Gehöftleben, Bamako, 2007. Foto: V. Hörbst

Dabei gehen der Wunsch und die Erwartung, Kinder zu bekommen, nicht nur vom Ehepaar und den einzelnen Eheleuten aus, sondern auch von der erweiterten Familie. Für viele malische Frauen und Männer stellt das Kinderbekommen die Erfüllung einer Pflicht gegenüber der erweiterten Familie des Mannes dar, denn Kinder werden der erweiterten Familie des Vaters zugerechnet. Darüber hinaus erklärt Aisha: „In unserer Gesellschaft sind Ehen ohne Kinder sehr schlecht angesehen, das gilt als wäre es das Unheil schlechthin!“

Aisha ist 29 Jahre alt und bewohnt mit Ibrahima, 35, eine kleine Villa abseits der Großfamilie ihres Mannes. Aisha hat Soziologie studiert, ist aber arbeitslos und deshalb zur Zeit Hausfrau. Ibrahima arbeitet als Ingenieur in einem Unternehmen. Sie warteten nach der Hochzeit drei Jahre lang auf die erste Schwangerschaft. Aisha erinnert sich: „Ich war sehr traurig, unruhig und dann nervös, vor allem, wenn ich in an meine familiäre Umgebung dachte. Wenn ich oft dorthin gegangen bin, dann haben sie bestimmte Kleinigkeiten mit ihren Kindern gemacht. (...) Oft waren es auch Anspielungen oder Hänseleien. (...) Sie denken, dass ihr kleiner Bruder, also mein Mann, keine Probleme hat und sie denken, dass es an mir liegt. (...)
Manchmal bin ich morgens aufgewacht und war vollkommen entmutigt. Die Schwiegereltern, die großen Schwestern meines Mannes fragten mich immer, „wie viele Jahre schon?“ Bei uns hier ist es üblich, dass man denkt, gleich nach der Hochzeit müsste die Frau schwanger werden. (...)
In dieser Zeit, da habe ich mich gefragt, ist es Wert, eine Frau zu sein, wenn man es nicht schafft, ein Kind zu bekommen? Es war dieses Gefühl, was mich angetrieben hat. In dieser Zeit war ich zu allem bereit, um ein Kind zu bekommen, mit allen Mitteln. Es war meine einzige Sorge, damit wachte ich morgens auf und schlief abends damit ein.“

Auch in der Erzählung Aishas wird klar, dass Kinder zu bekommen nicht nur eine gesellschaftliche Norm ist, sondern vom sozialen Umfeld eingefordert wird. Kinder zu bekommen und die damit unter Beweis gestellte sexuelle Fähigkeit und Fruchtbarkeit sind zentrale Punkte der weiblichen und männlichen Geschlechtsidentität. Bleiben Schwangerschaften und Kinder aus, beginnt oft bereits wenige Monate nach der Heirat das Leiden. Neben der eigenen Enttäuschung darüber, werden in der Großfamilie des Mannes zunehmend Anspielungen bis hin zu groben Beleidigungen, vor allem durch Schwiegermutter, Schwägerinnen und eventuell existierende Mitfrauen gemacht. Als erwachsene Frau sozial akzeptiert zu werden, das wird durch Heirat, vor allem aber durch daraus entstehende Kinder erreicht. Hinzu kommt, und das wird in den kurzen Erzählungen von Modibo und Aisha deutlich, dass in der Großfamilie des Mannes und in der Öffentlichkeit tendenziell Frauen für ausbleibenden Kindersegen verantwortlich gemacht werden. Da männliche Ursachen für eheliche Kinderlosigkeit in den meisten Familien als das Unmögliche, das Undenkbare gelten, und die Frage des Kinder-Bekommens eine kulturelle und sozial erwartete Norm darstellt, unterliegen vor allem kinderlose Frauen der sozialen Stigmatisierung. Allerdings scheint eine solche Stigmatisierung in Familienverbänden, in denen weitere Fälle von ehelicher Kinderlosigkeit vorhanden sind, geringer zu sein als in Familien, in denen nur ein Paar kinderlos ist. Ebenso stellen die Dauer der Kinderlosigkeit, das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein einer Mit-Frau sowie die Wohnsituation wichtige Faktoren dafür dar, wie stark die externe Stigmatisierung durch Familienmitglieder im Alltag ausfällt und wie sie von kinderlosen Frauen erlebt wird. Aber nicht nur in den Familien, auch auf den ständig stattfindenden Hochzeits- oder Taufzeremonien in Bamako wird vielen Frauen durch Anspielungen die ihnen angelastete Nichterfüllung der sozialen Pflicht und des eigenen Kinderwunsches stets aufs Neue bewusst gemacht.

Männer werden – jenseits ihrer eigenen Leidensgefühle und inneren Selbstzweifel – nur in Ausnahmefällen mit sozialen Beleidigungen und Verhöhnungen durch das familiäre Umfeld konfrontiert. Infertile Männer betonen zudem, dass sie kaum Anspielungen jenseits der Familie ausgesetzt sind. In Erzählungen stellt das Öffentlichwerden männlicher Unfruchtbarkeit die größte denkbare Scham und Schande für Männer dar. Dies hängt damit zusammen, dass Unfruchtbarkeit und sexuelles Unvermögen häufig als miteinander verknüpft betrachtet werden. So verweigern relativ viele Männer, sich medizinischen Untersuchungen zu unterziehen. Negative Ergebnisse werden vor der Familie häufig verschwiegen, wie etwa in Modibos Fall. Oder es werden nur einzelne Familienmitglieder informiert, die es wiederum für sich behalten.

Weil Männer und auch die erweiterte Familien die Ursache der Kinderlosigkeit in der Regel als bei den Frauen liegend sehen, erscheint bei länger anhaltender Kinderlosigkeit Polygynie vielen als ideale Lösung. Allerdings kann dies für sub- oder infertile Männer einen gewaltigen Druck darstellen, vor allem, wenn sie selbst ihre Diagnose kennen. Geben sie dem Druck der Familie nach und die Zweitfrau wird ebenfalls nicht schwanger, dann gehen sie das erhöhte Risiko ein, dass über „ihr Geheimnis“ getuschelt wird.

Aus Sicht betroffener Frauen stellt Polygynie keine befriedigende Lösung dar, sondern eine emotionale Bürde und Bedrohung, so im Fall von Salimata. Sie ist 36 Jahre alt und seit 10 Jahren mit Mohammed , 41 Jahre alt, verheiratet. Salimata arbeitet als Verkäuferin in einem Textilgeschäft, Mohammed ist ausgebildeter Lehrer, arbeitet aber als einfacher staatlicher Angestellter in der Distriktregierung. Zusammen mit einem Pflegekind, der fünfjährigen Tochter eines Cousins von Mohammed leben die drei in einer kleinen Mietwohnung. Seit 10 Jahren blieb die Ehe kinderlos, der Grund dafür wurde bei Salimata diagnostiziert. Nun hat sie Angst, dass ihr Mann, wie in Mali erlaubt, eine weitere Frau heiratet: „Wenn er sich dazu entscheiden wird, wenn er eine weitere Frau heiratet, und die andere Frau Kinder bekommt, dann lässt du es besser, du wirst sonst Probleme haben. Die Cousinen deines Mannes, auch dein Mann, werden dich nicht als richtige Frau ansehen. (...) Wenn er eine andere Frau haben wird, und die andere Frau dann Kinder haben wird - was hast Du dann dort verloren?“

Mit einer Nebenfrau, vor allem dann, wenn diese Kinder bekommt, steigt das Risiko, die emotionale Zuwendung und finanzielle Unterstützung ihres Ehemannes für therapeutische Maßnahmen zu verlieren. Zudem wird eine zunehmende Marginalisierung innerhalb der erweiterten Familie des Mannes befürchtet. Polygyne Ehearrangements verstärken eher den Druck und der kinderlosen Frauen nach einem eigenen Kind.

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Gynäkologisches Zentrum, Bamako, 2007. Foto: V. Hörbst

Welche therapeutischen Lösungen möglich sein können, darüber entscheidet vor allem der Zugang der Ehepartner und ihrer Familien zu finanziellen Ressourcen. Fast alle Malierinnen und Malier, mit denen ich sprach, unterziehen sich immer wieder so genannten „traditionellen“ Behandlungen, wodurch beispielsweise Aisha schwanger wurde. Gleichzeitig aber setzen die meisten, wenn es finanziell nur irgendwie geht, auch auf biomedizinische Untersuchungen und Therapien, beispielsweise Hormonbehandlungen, wie Aisha und ihr Mann oder Modibo und Alima. Alima wurde dadurch schwanger, allerdings hatte sie einen frühzeitigen Abgang. Nun setzen beide auf assistierte Insemination. Salimata und ihr Mann setzen ebenfalls auf biomedizinische Behandlungen. Ihr Gynäkologe schlug eine hormonelle Behandlung vor, aber sie hatten nicht die finanziellen Mittel, um die teuren Medikamente zu besorgen und über Monate hinweg einzunehmen. So sagt Salimata: „Aber ich glaube, es liegt an mangelnden Mitteln (…). 20 Tabletten für 90 Euro. Und er hat gesagt, diese Tabletten bekommt man hier nicht. Vielleicht in Frankreich. In Frankreich, gut, ich habe dort keine Verwandten. Ich habe dort keine Freunde und ach, selbst wenn ich Verwandte, oder Freunde dort hätte – wer würde mir das Geld dafür geben?“

Salimatas Einschätzung trifft die Situation vieler Frauen und Männer in Bamako. Zwar wird seitens malischer Gynäkologen im privaten Gesundheitssektor begonnen, Formen so genannter künstlicher Befruchtung in Bamako zu etablieren. Doch stehen diese Möglichkeiten, da sie relativ teuer sind, nur einer Minderheit an finanziell gut positionierten Frauen und Männer zur Verfügung. Weil Mali als Entwicklungsland mit hohen Geburtenraten und niedrigem Bruttosozialprodukt in der internationalen Entwicklungspolitik dem Diktum der Geburtensenkung unterliegt, gibt es dort bislang weder national politische noch internationale politische Bestrebungen, sich für adäquate und dem gegenwärtigen internationalen Standard entsprechende Behandlungen stark zu machen und beispielsweise einen Fond für finanzschwache ungewollte kinderlose Paare einzurichten.

Weiterführende Literatur

Rutstein/Shah 2004
See Reproductive Health Outlook, overviews/Lessons learned;

Zur Autorin

Dr. Viola Hörbst, Ethnologin, Lehrbeauftragte am Institut für Ethnologie und Afrikanistik, München



Hörbst Mali
Mali. Karte: E. S. Schnürer. Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main
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Afrika. Karte: E. S. Schnürer. Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008