DIE „MANTRAS“ DER EUROPÄER

Als Entwicklungshelfer in Papua Neuguinea

Von Clemens Schermann

Schermann Port Moresby
Port Moresby. Foto: nicht dokumentiert. Sammlung Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main

Die katholische Kirche der Diözese Daru-Kiunga (Western Province, Papua Neuguinea), hatte sich im Grenzgebiet zu West-Papua (Indonesien) um die Flüchtlinge gesorgt, die 1984 und danach in großer Zahl aus dem westlichen Teil der Insel über die Grenze nach Papua Neuguinea (PNG) gekommen waren und sich entlang dieser innerhalb von Papua Neuguinea angesiedelt hatten. Die Flüchtlinge in diesen provisorischen Siedlungen entlang der Grenze existieren bis zum heutigen Tag und gelten als illegal, die Regierung toleriert sie inzwischen aber. Da diese Flüchtlingsdörfer weder internationale noch nationale Unterstützung bekamen, weitete die katholische Kirche ihre pastorale Arbeit zu einem Projekt aus, aus dem das im folgenden beschriebenen Sozialprojekt unter der Mitarbeit von HORIZONT3000 1974 entstand. Ziel dieses Projektes war es, die Infrastruktur in den Flüchtlingsdörfern zu verbessern und Bildungsmaßnahmen zu unterstützen.

Ankunft und erste Eindrücke
Als ich im Jänner 2002 in Papua Neuguinea ankam, empfing mich drückende Hitze. Die Hauptstadt Port Moresby bot sich mir als ein Gemisch von moderner westlicher Kultur und lokalen Eigenheiten. Einzelne Menschen waren westlich gekleidet, fuhren große Autos, hauptsächlich japanischer Herkunft, und eilten, gleich Europäern, wie auf der Flucht durch die Straßen. Meine Aufmerksamkeit wurde allerdings von den Menschen am Straßenrand angezogen, die sich in Gruppen Verwandter oder Gleichgesinnter wie eine Großfamilie mitten zwischen Hochhäusern, Baracken und Supermärkten gemütlich eingerichtet hatten. Meist waren sie um einige Verkaufstände versammelt, bei denen Buais (Betelnüsse) und Zigaretten oder Früchte und Trockenfisch angeboten wurden. Nur während der heißen Mittagsstunden verschwanden sie teilweise. Ansonsten war die Straße der Lebensort dieser Menschen, Kinder spielten, die Kleinen hingen an der Brust der Mütter, die Männer diskutierten abseits und einige saßen einfach da. Bei einigen entdeckte ich finstere Mienen, wie zum Kampf bereit. Andere, besonders junge Leute, gaben sich cool und lässig, vertraut mit Walkman und Handys.

Im Zentrum der katholischen Mission in der neuen Provinzzentrale Kiunga der Western Province sollte ich in einem Sozialprojekt für Flüchtlinge aus Westpapua mitwirken. Eine australisch-amerikanische Minenkompanie hat hier vor 30 Jahren ihren Hafen angelegt, sodass seit dieser Zeit westliche Einflüsse und traditionelle Kulturen ungebremst aufeinander treffen. Es hatten bereits zwei Entwicklungshelfergenerationen von HORIZONT3000 in diesem Projekt vor mir gearbeitet. Nach ein paar Monaten allein im Projekt bekam ich Verstärkung durch Heike, eine Krankenschwester aus Deutschland.

Dorfentwicklung
Teil unserer Arbeit war die Fortführung von Community Development Workshops. Das Programm für diese Workshops hatten wir zunächst von unseren Vorgängern übernommen, auch weil einige lokale MitarbeiterInnen mit diesem Programm vertraut waren und es bereits selber durchführen konnten. Eine Einheit in diesem Kurs bestand aus einem dreiteiligen Rollenspiel mit verschiedenen Entwicklungsstadien: abhängiges Leben, teilweise abhängiges und schließlich selbständiges, unabhängiges Leben. Vielfach wurden Rollenspiele gestaltet, die das frühere Leben mit seinen verschiedenen Problemen darstellten, das jetzige mit den gegenwärtigen Einflüssen und Unterstützungsprogrammen von außen und ein „modernes“ Leben, wie sie sich es vorstellten. Ich hatte den Eindruck, dass sie mit ihrem Leben auch ohne Hilfe von außen ganz gut selbst zu recht kamen. Im dritten Rollenspiel über ein zukünftiges, unabhängiges Leben wurden Ideen und Vorstellungen vom „modernen“, westlichen Leben oft auf recht skurrile Art mit ihrer Lebensweise vermischt dargestellt.

Man kann die Kultur der Muyu als Sammler und Jäger bezeichnen. Es gibt keine Vorratswirtschaft, da die Natur jeden Tag mehr oder weniger in Fülle Lebensmittel und Medizin zur Verfügung stellt. Um das Überleben zu sichern, braucht es keine Planung von Jahr zu Jahr, man ergreift einfach eine günstige Gelegenheit zum Jagen und Sammeln. Wenn sich diese heute nicht bietet, versucht man es eben ein anderes Mal oder auf andere Weise. Eine große Rolle beim Finden von Nahrung und Beute spielten „magische Techniken“. Um Erfolg beim Fischen zu haben, waren etwa die Vorbereitungen mit bestimmten "Mantras" (= alte Gebete oder Zauberformeln) zu verrichten. Die Zurichtung von Pfeilen für die Jagd war ebenfalls eine Kunst, die in alte Rituale eingebettet war. So geschah es manchmal, dass Leute kamen und fragten, welche Geister die Weißen benützten, um erfolgreich zu sein, und ob wir ihnen nicht die „Mantras“ der Europäer verraten könnten.

Gesund ist, wer in Gemeinschaft lebt
Bei einem Aufenthalt in einem der Dörfer erlebten Heike und ich eine besondere Form der Heilung. An einem Sonntagnachmittag, nach unserem Wochenkurs für Erwachsene über Gesundheitsfragen, kamen wir an einem Haus vorbei, um das viele Leute versammelt waren. Aus dem Haus drangen Stimmen, die Wichtiges zu bereden schienen, es redete immer einer nach dem anderen. Als wir zuhause am Abend beim Essen um die Petroleumlampe saßen, erzählte Andreas, ein örtlicher Mitarbeiter, dass der Hausvater dieses Hauses sehr krank sei. Seine Verwandten hätten schon Verschiedenes probiert, um ihn zu kurieren. Neulich seien sie mit ihm auch in der Stadt im Spital gewesen, aber auch die Behandlung dort hätte keinen Erfolg gebracht. Nun hatte sich die ganze Verwandtschaft versammelt, um die ihrer Meinung nach letzte bestehende Möglichkeit zu nutzen, ihn zu heilen. Wenn nämlich alle ungelösten Konflikte und Schuld der Sippe ausgesprochen würde, könnte der Grund für seine ernsthafte Krankheit gefunden und dann bereinigt werden. Das würde dann auch die Krankheit auflösen. Auf die Frage, wie lange das dauern könne, erfuhren wir, dass diese Prozedur schon mehrere Tage oder gar Wochen in Anspruch nehmen würde. Wir meinten, dass der Mann aber inzwischen sterben könnte. Das sei wohl möglich, aber man müsse diese Vorgehensweise einhalten. Wenn er stürbe, bevor eine Lösung gefunden würde, würde ein Versöhnungsritus mit dem Verstorbenen vollzogen, der auch die Verwandtschaft untereinander wieder versöhnen würde. Dann könnten alle in Frieden weiterleben.

Bei diesen Workshops über Gesundheit und Hygiene erlebten wir auch andere traditionelle Heilmethoden. Ganz bewusst haben wir die Art der Muyus mit Krankheit umzugehen in unser Programm eingebaut. Viele KursteilnehmerInnen haben dies auch begeistert aufgenommen. Wir hatten den Eindruck, dass es sie mit Stolz erfüllte, wenn sie uns Weißen erzählten, wie sie auch schwere Verletzungen erfolgreich heilen konnten. Es war schwierig, einen Kompromiss zwischen ihrem Menschenbild und dem der westlichen Medizin zu finden. Oft waren auch die eingeschulten lokalen Gesundheitsarbeiter kaum imstande, die zur Verfügung gestellten modernen Medikamente richtig einzusetzen.

Gesetz und Norm - Eintracht mit dem Ganzen
Viele unserer Gespräche und Verhandlungen verliefen schier endlos. Entscheidende Anliegen wurden nicht direkt vorgebracht, sondern eher durch Andeutungen und meist ganz am Ende eines langen Gespräches, das dazu diente, guten Kontakt herzustellen und zu erhalten. Für uns Weiße war das oft eine Geduldprobe und während der ersten Monate sowieso unverständlich. Schließlich hatten wir einen Auftrag zu erfüllen, und dazu hatten wir eine gewisse Zeit vorgesehen, in der eine bestimmte Entwicklung ihre Früchte zeigen sollte. Veränderungen im Leben der Papuas folgen dem biologischen Rhythmus, wie geboren werden und sterben. Oder es kommt zu krisenhaften Konflikten, die Veränderungen herausfordern. Das Leben ist stark geformt durch das Zusammenleben in der Sippe (dazu gehören auch die verstorbenen Angehörigen, die Ahnen), das hauptsächlich durch unausgesprochene Tabus geordnet wird. Festgelegte schriftliche Vereinbarungen gibt es kaum. Bei Eigentumsansprüchen oder der Nutzung bestimmter Jagdgebiete existiert ein hoch kompliziertes System, das unser Rechtssystem in den Schatten stellt. Einerseits sind es traditionelle Ansprüche, die von den Vorfahren auf die Lebenden übergehen, andererseits kommen Heirats- und Friedenspolitik dazu, für die zur Lösung von Konflikten mit benachbarten Sippen verwandtschaftliche Bande eingegangen werden, um ein friedliches Zusammenleben zu sichern. Dabei werden immer Güter und Nutzungsrechte getauscht, die dann als Beweis für die bestehenden Verbindungen an die Nachfahren übergeben werden. Ziel ist, ein gutes Zusammenleben zu sichern, das das Überleben des einzelnen gewährleistet.

Einmal erkundigten wir uns bei den Muyus, wie eine Hochzeit ausgerichtet wird. Zuerst berieten sie sich eine zeitlang untereinander, dann erzählten sie, dass es zwei Formen der Heirat gibt: eine ordentliche und eine außerordentliche. Bei der ordentlichen Verheiratung kommen zunächst die Familien zusammen und regeln in langen Gesprächen alle Fragen des materiellen Austausches der gegenseitigen Besitz- und Nutzungsgarantien, bevor Bursche und Mädchen in langen Zeremonien langsam zusammengeführt und verheiratet werden. Die außerordentliche Form ist dann erforderlich, wenn ein Bursche und ein Mädchen ohne die familiären Vorbereitungen Kontakt aufgenommen und sexuellen Verkehr hatten. Dann haben die Familien zuerst den Konflikt zu lösen, der durch diese Vorgangsweise ausgelöst wurde. Es könnten ja Kompensationsforderungen von der einen an die andere Familie gestellt werden, die sogar zu Feindseligkeiten und kriegerischen Auseinandersetzungen führen könnten. Die Muyus versuchten diese zu vermeiden. Im Fall eines Konfliktes verhandelt man und ging wieder auseinander, zum Beispiel wenn Nahrungsmittel ausgegangen waren, um sich diese wieder neu zu beschaffen. Dann wurden die Verhandlungen vielleicht erst Jahre später wieder aufgenommen. Bei einem „Schweinefest“ gab es dann die hinausgeschobene Konfliktbereinigung und Versöhnung, bei denen Heiraten nachvollzogen und Besitz- und Nutzungsrechte wieder neu vereinbart wurden.

Bei diesen familiären Angelegenheiten waren die Frauen den Männern ebenbürtig. Für den „Hochzeitspreis“ steuerten die Frau und der Mann aus ihrem jeweiligen Besitz bei. Sonst hatte ich oft den Eindruck, dass die Männer die führende Rolle in der Gesellschaft inne hatten, möglicherweise weil die Männer auf Grund ihrer Aufgabe, die Grenzen zu sichern, Kontakt mit Fremden und Außenstehenden – und so auch mit uns und den anderen Weißen - unterhielten. Auch wenn die Weißen materielle Güter brachten, kamen dieselben meist in die Hände von Männern, die dadurch wiederum größeres Ansehen und Macht erlangten. Im Laufe der Zeit führte der Kontakt mit den Weißen zu einer Umgewichtung im Geschlechterverhältnis.

Flüchtlinge im eigenen Land
Eine ranghohe Delegation einer internationalen Juristenkommission kam nach Kiunga, um die Menschenrechtssituation in den Flüchtlingsdörfern zu untersuchen. Sie wollte einen Bericht für die Regierung in PNG und Indonesien, wie auch für die UN verfassen, um so die internationale Aufmerksamkeit auf die Flüchtlinge wach zu halten. Einer der Führer der Flüchtlingsdörfer bat mich, als Vermittler anwesend zu sein. Die Begegnung wurde zu einer politischen Kundgebung, bei der die Flüchtlinge ihre Anliegen mit Transparenten und Petitionen zum Ausdruck brachten. Im Alltag der Menschen in den Flüchtlingsdörfern war sonst nicht viel von ihren politischen Ambitionen zu merken. Tatsächlich spielte auch in unserer Arbeit der Flüchtlingsstatus der Muyus bloß eine marginale Rolle. Dennoch war uns wichtig, ihre jüngere Geschichte zu verstehen, die sie zu Flüchtlingen gemacht hatte.

Vor 20 Jahren waren sie aus ihren angestammten Plätzen jenseits der Grenze von Westpapua (Indonesien) geflüchtet, nachdem eine militärische Offensive von indonesischen Streitkräften und Paramilitärs alle entlegenen Gebiete durchkämmt hatte auf der Suche nach Aufständischen. Tatsächlich gibt es seit der Geburtsstunde des indonesischen Staates (1963) eine Unabhängigkeitsbewegung in Westpapua, die für einen selbständigen Staat plädiert. Die indonesische Regierung hatte sich von Anfang an um staatliche Einheitlichkeit bemüht und etliche Bildungsmaßnahmen unternommen. Für Westpapua hieß das unter anderem, dass die Menschen nicht mehr nackt gehen, beziehungsweise die Männer keinen Penisköcher mehr tragen durften, sondern „kultivierte“ Kleidung tragen mussten. Die massiven Eingriffe durch Regierungsbeamte, Lehrer und Soldaten aus dem fernen Java, wo die Regierung in der Hauptstadt Jakarta diese Programme entworfen hatte, erzeugte mehr und mehr Konflikte. Ein lokaler Mitarbeiter erzählte mir einmal, wie dramatisch er die medizinischen Patrouillengänge der indonesischen Regierungsmitarbeiter erlebt hatte. Die ganze Sippe sei mit vorgehaltenen Gewehren aufgefordert worden, traditionelle Medizin zu vernichten, um dann in der Folge „weiße“ Medikamente kaufen zu müssen.

In den 1970er-Jahren hat die indonesische Zentralregierung die bereits bestehenden Konflikte noch verschärft, indem sie tausende javanesische Bauern nach Westpapua zwangsumsiedelte. Das dafür notwendige Land wurde den Einheimischen durch Verstaatlichung weggenommen. Die Plätze der Ahnen sind für manche Papuas in dieser Zeit unter den Ketten der Katerpillar verschwunden. So wurde ihr Leben in der Folge mehr und mehr zu einem kulturellen Überlebenskampf. Es ist nicht sicher, ob sie den je gewinnen können – weder in Indonesien noch in Papua Neuguinea.

Zum Autor
Clemens Schermann, Priester in Eisenstadt, Burgenland. Von 2001-2003 Entwicklungshelfer in Papua Neuguinea


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008