SOZIALORDNUNG UND LANDSCHAFT IN PAPUA NEUGUINEA

Von Jürg Wassmann

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Knotenschnur. Foto: J. Wassmann

Iatmul: dieses Wort assoziiert in der Ethnologie Klassisches, Strukturiertes und Komplexes. Auf allen Gebieten weist diese Kultur am mittleren Sepik-Fluss Superlative auf: in der dualen Organisation der Sozialstruktur, die heute noch an der Anordnung der Wohnhäuser ablesbar ist; der mythologischen Bedeutung der urzeitlichen Ereignisse und Totems – durchaus mit dem „Dreamtime“-Konzept der australischen Aborigines vergleichbar; in den Initiationsritualen für junge Männer mit ihrem stufenweisen Zugang zu immer stärker esoterischem religiösem Wissen; bei den heiligen und geheimen Flöten, Schlitztrommeln und weltberühmten Schnitzereien; bei den eindrucksvollen Männerhäusern, die sowohl religiöses als auch soziales Zentrum sind; schließlich im Namensystem, das allen Dingen dieser Welt eine Ordnung gibt, indem es alles mit einem Namen versieht und diese zu Tausenden in bestimmten Reihenfolgen memoriert werden müssen.

Die Schöpfungsgeschichte erklärt und legitimiert die heutige Weltordnung. Am Anfang war nur Wasser, das Urmeer. Danach entstand ein Krokodil, aus seinem Speichel entwickelte sich die erste, schwankende, Grasinsel, die sich laufend vergrößerte und zur Erde wurde. Das Krokodil spaltete sich und aus seinem Oberkiefer entstand der Himmel und das Licht, sein Unterkiefer dagegen verfestigte die damalige Erde. Dann wurden aus einer Erdöffnung (Vagina) die ersten Menschen geboren: die Vorfahren der heutigen Iatmul. Im zweiten Teil des Schöpfungsaktes verließen die Schöpfergestalten den ersten Ort und wanderten auf spezifischen Wegen in die heutigen Siedlungsgebiete am mittleren Sepik. Dabei schufen sie die heutige Topographie und gründeten die ersten Siedlungen, wo sie jeweils einige Vorfahren zurückließen. Diesen wurde die Fähigkeiten zugesprochen, sich in bestimmte Dinge der Umwelt (Totems) zu verwandeln, d.h. in Bäume, Tiere, Gestirne, Winde, Regen. In dieser Zeit erhielten die Menschen und alle Totems auch Namen. Diese Namen treten immer paarweise auf und sind in langen Reihen geordnet. Sie sind polysyllabisch und weisen in einer Art Telegraphese auf die damaligen urzeitlichen Ereignisse hin.

Diese urzeitlichen Geschehnisse, Schöpfung und Wanderung, begründen und legitimieren die bestehende Weltordnung; die heutige Sozialorganisation mit Hälften, Klangruppen, Einzelklanen; die heutige Verantwortung der Klane für bestimmte Dinge (Totems) der sie umgebenden Welt; die heutigen Land- und Fischereirechte; die heutigen Namen für Menschen, Männerhäuser, Wohnhäuser, Hunde und Schweine – sie alle stammen aus der Urzeit. Damit werden die heutigen Menschen und Totems mit jenen aus der Urzeit gleichgesetzt, beide haben zudem eine enge Anbindung an bestimmte Orte auf den damaligen mythologischen Pfaden. Die heutige Person ist durch ihren (urzeitlichen) Namen definiert, in den Sinne, dass sie als Reinkarnation des damaligen Vorfahren gilt, der den gleichen Namen trug. Durch den Gebrauch der Namen fallen Urzeit und Jetztzeit zusammen, und die linear-genealogische Abfolge wird aufgehoben.

Die Landschaft des mittleren Sepik ist flach, monoton, amphibisch, beherrscht vom Fluss und einigen wenigen Hügeln. Stellen wir uns vor, einige „alte Krokodile“ (big men, d.h. Männer mit religiösem Wissen) würden sich auf einem dieser Hügel versammeln. Sie würden auf eine „mythologisch besetzte“ Landschaft schauen, in etwa so wie es T. Strehlow für die Aranda in Zentralaustralien beschrieben hat. Sie würden den Sepik-Fluss als das Urmeer wahrnehmen, die darauf treibenden Grasinseln als die heutige Welt, die schmalen Wasserläufe als Pfade der urzeitlichen Vorfahren, den Palingawi-Berg zum Beispiel als Schöpfung zweier kannibalistischer Seeadler.

In Zeiten von Krisen (zum Beispiel anlässlich eines Todesfalls) oder wenn etwas Neues in die bestehende gedankliche Ordnung eingebaut werden soll (zum Beispiel ein neu gebautes Männerhaus oder ein neu geschnitztes Kanu) werden die Ereignisse der Urzeit wiederholt und damit bestätigt: In langen Gesangszyklen von je circa 16 Stunden werden Schöpfung und Wanderungen nacherzählt und dadurch nacherlebt. Die vorgetragenen Texte in den Gesängen sind kurze Episoden aus den dahinter liegenden großen und geheimen Mythen. Dabei werden als mnemotisches (die Erinnerung stützende) Hilfsmittel lange Knotenschnüre benutzt, die als Ganzes eine klanspezifische urzeitliche Wanderung darstellen und wo die einzelnen Knoten den damaligen Siedlungen entlang der Pfade entsprechen.

Jeder Knoten repräsentiert einen urzeitlichen Ort, damit verbunden sind bestimmte Totems und deren (Hunderte von) Namen.

Weiterführende Literatur
Wassmann, Jürg (1982): Der Gesang an den fliegenden Hund. Untersuchungen zu den totemistischen Gesängen und geheimen Namen des Dorfes Kandingei am Mittelsepik (Papua New Guinea) anhand der kirugu-Knotenschnüre. Basler Beiträge zur Ethnologie, Band 22. Basel
Wassmann, Jürg (1987): Der Biss des Krokodils: Die ordnungsstiftende Funktion der Namen in der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt am Beispiel der Initiation, Nyaura, Mittel Sepik. In: Mark Münzel (Hg.): Neuguinea. Nutzung und Deutung der Umwelt, Band 1 und 2, Roter Faden zur Ausstellung. Frankfurt am Main. S. 511–557

Zum Autor
Prof. Dr. Jürg Wassmann, Ordinarius für Ethnologie und Direktor des Instituts für Ethnologie, Universität Heidelberg. Zahlreiche Feldforschungen in Papua Neuguinea und auf Bali.


Herausgeber © Museum der Weltkulturen, Frankfurt a. M. 2008